Meine zweite Natur by Michael Pollan
Autor:Michael Pollan [Pollan, Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 978-3-86581-580-4
Herausgeber: oekom, München
veröffentlicht: 2014-03-14T16:00:00+00:00
Herbst
Kapitel 8
Ernte
M
it dem Erntemond, der normalerweise gegen Ende September erscheint, tritt der Garten in jene süße melancholische Jahreszeit ein, in der reifer Überfluss sich mischt mit den ersten Vorboten des Winters, die jeder erkennen kann. Mit Ausnahme vielleicht von ein paar tropischen Einjährigen, die, je näher der Frost kommt, umso verrückter blühen. Völlig unbekümmert, was das Nahen des Winters und die Benimmregeln der Winterruhe betrifft, unternehmen Dahlien und Ringelblumen, Tomaten und Basilikum keinerlei Vorkehrungen gegen den Frost, der vor der Tür steht und in einem Monat da sein wird, vielleicht auch schon morgen. Anders als die winterharten Mehrjährigen vollziehen die Einjährigen im September keine innere Wende; bei den Mehrjährigen kann man beobachten, wie sie langsamer werden, kein Risiko mehr eingehen, ihre Aufmerksamkeit von Blüte und Blatt auf Wurzel und Stärkevorrat verlagern. Aber anstatt nun die Luken dicht zu machen und etwas für künftige Tage zurückzulegen, werfen sich die Einjährigen der schwächer werdenden Sonne entgegen, mit offenen Armen und vollkommen naiv. In diesen ersten Herbsttagen, wenn der Frost wie ein Damoklesschwert in der Luft hängt, auch für die niederste Kreatur fühlbar wie das Sonnenlicht, gibt es da etwas Ergreifenderes als das unbeschwerte, tollkühne Blühen einer Dahlie? Denn der leichteste Frost, so ein erster tastender Winterhauch, wie ihn der September oft bringt, kann sie über Nacht vernichten und schon ist sie tot und schwarz.
Manchmal bringt der Herbstmond einen solchen Frost, der jedes Mal wie ein Herzensbrecher der Natur auftritt; denn sehr häufig folgen darauf einige Wochen guten wachstumsfördernden Wetters. Wenn die Tomaten einem Septemberfrost erlegen sind und wie schwarzer Krepp von ihren Spalieren hängen, können solche Wochen geradezu grausam erscheinen – voller Schadenfreude und Vorwürfe wegen versäumter Gelegenheiten. An jenen Abenden, wenn der Vollmond über einen wolkenlosen Himmel herrscht und die Luft so einen leicht metallischen Geschmack hat und damit schon andeutet, sie werde ihre Wärme kampflos aufgeben, an jenen Abenden also unternehmen wir einen letzten Rettungsversuch für die Einjährigen. Um von der Wärme der Erde einen Rest zu bewahren, kleiden wir die Tomaten, Kürbisse und Gurken in alte Bettlaken und Abdeckplanen ein. In solchen silbrigen Nächten sieht der Gemüsegarten wie eine Gespensterzusammenkunft aus und die Erde hat das Gefühl, sie habe ihre Bettdecke verloren; da ist nichts mehr zwischen ihr und dem Weltraum. Bettlaken, fürsorgliche Raumanzüge für die Einjährigen.
Mit etwas Glück gleitet der Garten durch diese wenigen frostigen Nächte hinein in eine Kette sicherer, warmer Tage. Im schrägen Licht der Jahreszeit sieht der ganze Garten überreif aus, beladen und ein bisschen verquer. Die Sonnenblumen haben ausgiebig geblüht und lassen nun, von Tag zu Tag schläfriger, die Köpfe hängen; diese in die Sonne zu heben, schaffen sie nicht mehr, sie sind zu schwer. An den Rändern halten sich Eichelhäher fest und hängen kopfunter, um die fetten Samen herauszupicken. Die vorherrschende Farbe der Jahreszeit ist ein heftiges ins Orange gehende Gelb – der scharfe Ton von Kürbisfleisch, Sonnenblume, von Blütenblättern der Schwarzäugigen Susanne, vom verfärbten Laub des Zuckerahorns. Und auch von Mongol-Bleistiften und Schulbussen, denn hat nicht alles, was Schuljahresanfang signalisiert, dieses Gelb
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